Jurydiskussion Katharina Schultens

Die deutsche Autorin Katharina Schultens las auf Einladung von Insa Wilke den Romanauszug „Urmünder“. Die Jury war vom ersten Text des Bewerbs 2019 durchaus angetan.

Zwei alternierende Zeitebenen in einer Zukunft, in der die Welt eine andere ist und Mädchen nicht mehr richtige Mädchen sind, verknüpft Katharina Schultens in ihrem Romanauszug „Urmünder“. Im Jahr 2184 reflektiert die Gärtnerin und Amata Emilia Habekos ihre Wirklichkeit. Scheinbar einfache Begriffe wie der Name „Emilia“ und die Länderbezeichnung „Ukraine“ werden von den Mädchen nicht mehr verstanden. „Die Welt ist, wie wir sie nicht verhindert haben“, schreibt Schultens in ihrem spekulativen Text, Fehlgeburten und weitere Missstände scheinen eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Zwölf Jahre später singt das Mädchen Emile mit den anderen Mädchen und den Amatae, eine Art Erzieherinnen, Gebete und verschmilzt schließlich mit einer Chimäre.

Lesung Katharina Schultens

ORF/Johannes Puch

Katharina Schultens

Keller genoss den Vortrag

Den Anfang machte Jurorin Hildegard Elisabeth Keller, die es genoss, der Stimme von Schultens zuzuhören, die die Landschaft des Texts präzise formuliere. Intensive Verwirrung würde von dem Text gestiftet werden, aber die Stimme habe sie durch die Landschaft, die sie nicht verstehe, geführt und davon überzeugt, dass es sie gebe. Feste Identitäten gebe es nicht mehr, die Zeiten würden verschwimmen. Die Orte seien präzise, die Zeit nicht, das führe zu Verwirrung. Sie habe etwas genossen, das sie vom Verstand her nicht begreifen könne.

Lesung Katharina Schultens

ORF/Johannes Puch

Elisabeth Keller

„Schmeißt sich nicht an Zuhörer“

Auch Stefan Gmünder befand, der Text würde sich nicht an den Zuhörer schmeißen. Wie Keller, zeigte er sich von der Atmosphäre des Textes beeindruckt. Gott sei tot, oder vielleicht doch nicht, es sei ein vielschichtiger Text, der für alle etwas bereithalte. Jedoch stellte er fest, der Text sei „etwas zu ausgeklügelt“.

Der Juryvorsitzende Hubert Winkels meinte, die Motive des Kinderwunsches, des Kindergebärens und -sterbens seien sehr dominant. Der Science-Fiction-Sprung sei dem gegenüber gering. Botanische Metaphern würden die Machart des Texts aufzeigen. Ein weiteres Motiv sei Marya. Das berühmteste Lied der Mutter Gottes würde angespielt, damit nehme der Text Bezug auf religiöse Motive. Die stärksten Motive werden lyrisch miteinander verknüpft, epische Elemente gebe es wenige.

Lesung Katharina Schultens

ORF/Johannes Puch

Hubert Winkels

Winkels fand sich an die österreichische Malerin Maria Lassnig erinnert, die ihre Motive immer weiter abstrahiert habe und sie somit ins Unbegreifbare zog. Das sei auch die Haltung von Schultens Text. Er habe ihm imponiert, die sprachlichen Elemente würden sich durch den Text ziehen, jedoch finde er zu viele Motive auf so knappen Raum. Juror Michael Wiederstein wollte noch einmal auf das Verständnisproblem zurückkommen. Wenn ein Text seiner Form so treu sein wolle, könne man nicht erwarten, dass wir verstehen könnten, wie die Welt in 200 Jahren aussehen werde. Daher seien Form und Geschichte kongruent.

„Text ist eine Chimäre“

Insa Wilke, die Schultens nach Klagenfurt eingeladen hatte, meinte, der Text sei selbst eine Chimäre, gebe aber dennoch Linien vor, an denen man sich orientieren könne. Anspielungen auf George Orwell seien zwar vorhanden, jedoch seien Referenzen zur Autorin von spekulativen Texten Ursula Le Guin stärker. Es handele sich um eine unerbittliche Frau, im Mittelpunkt stehe ein ethischer Konflikt. Die Perspektivschneise stehe für Trost und Hoffnung, auf der anderen Seite gebe es die Schneide. „Nur ein Buchstabe Unterschied.“

Lesung Katharina Schultens

ORF/Johannes Puch

Nora Gomringer

Schlagabtausch in der Jury

Klaus Kastberger stellte fest, dies sei kein Germanistentext, sondern ein „Text, der wirklich breit verständlich ist“. Populäre Referenzen seien nicht für Germanisten gemacht, ein solches Motivfeld sei „Avatar“, ein weiteres „The Handmaid’s Tale“, wo es Fertilitätsprobleme gebe. Der Text sei hochkomplex und präzise, aber er würde Probleme verhandeln, die sich im Jetzt finden. Der Archivcharakter sei auch spannend, da sich der Text als Dokument ausgebe. Er „fragt, was bleibt denn eigentlich von uns“. Der Text tue so, als würde er in der Zukunft spielen, habe aber „eine wahnsinnige Aussagekraft“ über unsere Gegenwart.

Wilke fand interessant, dass es die Ebene „Emilia“ und die Ebene „Emile“ gebe, letztere sei von Emilia gezogen und habe Erinnerungen, die sie gar nicht haben könne. Das Wissen sei in der Geschichte noch nicht in Erfahrung umgewandelt worden.

Nora Gomringer wunderte sich, ob Wilke ihre Informationen aus dem Vorgespräch mit der Autorin habe, was Wilke verneinte. Gomringer sei „völlig rausgekegelt“, ihr sei das alles nicht klar gewesen. Sie finde alles spannend, „und doch bin ich ganz rausgekegelt“, sie wünsche sich mehr Präzision.

Wilke entgegnete, man müsse den Text mehrfach lesen und sich Gedanken über das Gelesene machen. Man müsse das nicht bewusst machen, es sei für den Text wichtig, auf die Intuition zu vertrauen.

Lesung Katharina Schultens

ORF/Johannes Puch

Michael Wiederstein

„Massive Anforderung an das Verstehen“

Winkels strich hervor, man könne in der Umgebung ein reales Gebilde erbauen, die spezifische Dichte dieses Texts sei aber „extrem hoch“. Man müsse den Text dechiffrieren, um auch kritikfähig zu bleiben. Selten würden Texte „so massive Anforderungen“ an das Verstehen stellen.
Laut Gmünder komme man auf falsche Spuren, wenn man zu viel im Text suche.

Kastberger meinte, „an diesem Text ist alles perfekt“. Man dürfe an ihm nichts ändern. Entweder, man lasse sich davon berühren, oder nicht. Der Text sei keine Aufgabe für das Lektorat, „sondern für uns“. Der Lektor habe es gut, da es nichts zu verbessern gebe. „Mit den Himbeeren stimmt etwas nicht“, zitierte Kastberger einen Text von vor zwei Jahren, so sei auch Schultens‘ Text. Die Hoffnung, die in der Vermischung steht, sei das Zentrale in „Urmünder“. „Ich steck in dem Text drinnen“, bekräftigte Kastberger. In dieser Welt halte er sich lesend unheimlich gerne auf.

Gomringer sah sich nicht erreicht

Keller ortete auch Genderfragen in „Urmünder“, nie würde zum Beispiel erklärt werden, wie Kinder gezeugt werden. Es gebe viele Leerstellen und es sei legitim zu sagen, man fühle sich aus der Bahn geworfen. „Was wir noch gar nicht erwähnt haben, ist der Humor“, stellte Wilke fest. „Wir werden vorgeführt mit unserer Idiotie.“ Aufgrund des Gegenwartspräteritums würde sich eine eigene Eben auftun, die musikalische Ebene würde die Leser erreichen.

Gomringer hinterfragte Kastbergers „Diffamierung von Lektoren“. Den Humor sehe sie durchaus, trotzdem erreiche sie der Text nicht.

Wilke vermutete Widerstand aufgrund der Qualität des Texts. Winkels verstehe nicht, warum man es so absolut sehen müsse. Er wolle dafür plädieren, dass Kanten offen bleiben, man müsse Zwischenformen benennen können.

Lesung Katharina Schultens

ORF/Johannes Puch

Freude an der Diskussion

Die Juroren freuten sich über die „chimärenhafte Diskussion“, wie Gomringer sie bezeichnete. Wilke nahm nochmals auf Ursula Le Guin Bezug, das Zusammenspiel mehrerer Möglichkeiten literarischen Erzählens gefalle ihr. Gemeinsam mit Winkels verglichen sie diesen Text mit Zeitsprüngen und Mechanismen, die in „Star Wars“ verwendet würden.

„Hochkomplexe Texte, hochpräzise Kritik“, fasste Moderator Ankowitsch die Diskussion zusammen, das gesamte ikonographische Gebiet von der heiligen Maria bis „Star Wars“ sei aufgezeigt worden.