Text der Rede zur Literatur: „Seelenfutter“

Franzobel hielt im Jahr 2017 die „Rede zur Literatur“ im Rahmen der Eröffnung der 41. Tage der deutschsprachigen Literatur. Hier können Sie den gesamten Text der Rede nachlesen.

Seelenfutter Oder Das süße Glück der Hirngerichteten

Ko taku reo taku ohooho, ko taku reo taku mapihi mauria.

Zu Beginn wird’s grünlich. Grünlich, meine verehrten Damen und Herren, mein Freund Grünlich nämlich, ist überzeugt, dass es in spätestens fünfzig Jahren keine Bücher mehr geben wird, nur noch E-Books mit virtuellen Protagonisten, Avatars, die einem gleich die ganze Handlung vorspielen. Mit entsprechender Musik und, wenn man das will, Kommentaren, Querverweisen, Interpretationen. Man wird, so Grünlich weiter, zwischen verschiedenen, jedenfalls mehr als zwei, Geschlechtern und diversen Enden wählen, ja vermutlich sogar die Geschichte selbst nach eigenem Gutdünken entwickeln können. Mit einem Mausklick wird jeder zu einem Schöpfer. Alles verändert sich. Die Literatur so sehr, dass einem die Augen rausspringen.
In spätestens fünfzig Jahren wird man Buchhandlungen, Bücherregale, ja selbst Bücher so verwundert ansehen wie heutzutage Jugendliche ein Tonbandgerät, ein Pornokino oder eine Steintafel mit sumerischer Keilschrift. Buchhändler und Bibliothekare werden keine Dealer eines Geheimwissens mehr sein, sondern pelzige Mammuts, die sich in ihren Terrarien irgendwie seit dem Pliozän der Aufklärung am Leben gehalten haben. Und Schriftsteller? Ausgestorbene Steinzeitler aus dem Paläolithikum der Schreibmaschine oder dem Neolithikum des Laptops? Längst ersetzt durch den Homo autorencollectivus?
Jedenfalls hat Grünlich, ähnlich wie die Widerstandsgruppe in Fahrenheit 451, begonnen, Bücher zu horten, oder, wie er selbst sagt, zu sichern. Zuerst in seiner Wohnung, in Regalen, bald in Kisten. Erst als sich Risse in den Mauern zeigten, ihm Statiker versicherten, jede weitere Belastung würde unweigerlich die Zimmerdecke und damit das ganze Haus zum Einsturz bringen, hat er einen aufgelassenen Salzstollen gekauft und begonnen, dort seine Millionen Bücher, mittlerweile kauft er sie zum Tonnenpreis, zu verwahren.
Grünlich, mein Homme de Lettres, ein massiger, irgendwie aus der Zeit gefallener Mensch mit einer Vorliebe für gelbliche Cordhosen und bunte Krawatten, die aussehen, als wären sie einem Pizzabeleger auf den Tisch gerutscht, dem Bier nicht abgeneigt, Grünlich ist Jahrgang 1974. Im selben Jahr schrieb Arthur Koestler in der Sunday Times einen Wettbewerb über die unglaublichsten Zufälle aus. Es gewann die Geschichte vom Schiffbruch der Yacht Mignonette, die 1884 achthundert Seemeilen nordwestlich vom Kap der Guten Hoffnung in Seenot geriet. Aber nicht die Tatsache, nun wird es gräulich, dass seine drei Leidensgenossen dem siebzehnjährigen Schiffsjungen Richard Parker ein Taschenmesser in die Halsvene rammten und ihn anschließend verspeisten, ist das Besondere. – Derartiges kam in der Seefahrt öfter vor und war sogar vom Katholizismus geduldet, schließlich steht in der Bibel nirgendwo, dass man seinen Nächsten nicht verspeisen darf. Im Gegenteil: Dies ist mein Fleisch. Nehmet und esset alle davon … Nein, die Ungeheuerlichkeit ist, dass Edgar Allen Poe das alles bereits vierundvierzig Jahre zuvor aufgeschrieben hatte. In Poes Bericht des Arthur Gordon Pym wird erzählt, wie vier Männer in einem Rettungsboot das Los entscheiden lassen, wer als Mahl für die anderen geopfert werden soll. Der Unglückliche trug, halten Sie sich fest, den Namen Richard Parker. Zufall? Ein Beweis für das Visionäre der Literatur?
1974, noch ein Kuriosum, feierte die zu Austern beliebte Sauce Mignonette – Sie erinnern sich an den Namen der gekenterten Yacht? – ihren 250. Geburtstag, wie, Detail am Rande, auch Klopstock und Kant. Erstmals Erwähnung fand der kategorische Schalotten-Essig-Dip, der Richard Parkers Essern sicher nicht zur Verfügung stand, übrigens, und jetzt wird es richtig bizarr, in einem Kochbuch namens Der köstliche Koestler. Der Name des Verlegers? Parker!

Mit so einer Geschichte kann ich nun nicht aufwarten, aber unlängst, meine geschätzten Damen und Herren, unlängst hat mein siebenjähriger Sohn am Frühstückstisch, der ist bräunlich, gemeint: »Es ist eine Sauerei, dass die Vergangenheit dem Staat gehört.« Meine Frau und ich haben uns verwundert angesehen. Was meint der kleine Kerl da? Er hat es uns erklärt: Wenn man einen Schatz findet, muss man ihn abgeben, das heißt, er gehört dem Staat.
Zum Glück ist das nicht immer so, Geschichten – etwa die des doppelt verspeisten Richard Parker – sind auch ein Schatz, gehören aber keineswegs dem Staat allein, sondern allen, und darum müssen sie, wie Grünlich weiß, erhalten werden, eingelagert in Salzstollen. Weil Geschichten sind das Salz der Suppe der Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Austern für unsere virtuelle Sauce Mignonette.
Und Schriftsteller, hat mir kürzlich eine Dame zugeraunt, müsse ein wunderbarer Beruf sein. Das Herumreisen und Recherchieren stelle sie sich herrlich vor. Natürlich hat sie recht. Früher wollte ich Erfinder werden, ein Daniel Düsentrieb. Als Schriftsteller habe ich mir diesen Kindheitstraum erfüllt. Nun kann ich Wörter, Geschichten, Personen, Sprachen erfinden. Wirklich ein beneidenswertes Tun, wenn man davon absieht, dass es keinen Urlaub gibt, die Parallelwelt nur schwer mit einer Familie in Einklang zu bringen ist – wie oft bin ich nicht schon um Schreibzeug bittend in einem Geschäft gestanden, ohne recht zu wissen, was ich da überhaupt soll, weil am Weg dorthin die in eben diesem Geschäft zu besorgenden Sachen, Medikamente für ein krankes Kind oder Wünsche meiner Frau, Wörter wie Mucosolvan oder Geschirrspülsalz mit dem Geschehen eines gerade in Arbeit befindlichen Romans abgeglichen worden sind, und zu einem Satz oder einer Szene inspiriert haben, worüber alles andere in Vergessenheit geraten ist.
Lange dachte ich, der Sinn der Literatur wäre es, gegen die eigene Vergänglichkeit anzuschreiben, etwas zu schaffen, das Generationen überdauert. Heute glaube ich nicht mehr an diese Möglichkeit. Die Sprache ändert sich, und verstanden wird immer nur das, was man verstehen will, was mit dem eigenen Weltbild in Einklang steht. Nichts überlebt. Alles ist vergänglich, auch ein Text. Und das hat, richtig besehen, etwas Tröstliches.
Kennen Sie die Geschichte von Ibsens Badewanne? Henrik Ibsen, übrigens ein leidenschaftlicher Austernesser, war der erste in Kristiania, wie Oslo damals hieß, der eine Badewanne besaß – lange vor dem norwegischen König. Nach seinem Tod ging das gute Stück verloren, und erst Jahrzehnte später haben sich literaturwissenschaftliche Feldforscher aufgemacht, Ibsens Badewanne wieder ausfindig zu machen. Können Sie sich denken, wo man sie gefunden hat? Auf einem Bauernhof in Solbakken! Dieses heilige Relikt der Literaturgeschichte, worin dem großen skandinavischen Dramatiker vielleicht Szenen für Peer Gynt oder Die Wildente eingefallen sind, fand als sogenannter Sautrog Verwendung. Zu ungeheuerlich für die ob dieser landwirtschaftlichen Badewannenverzirzung verstörten Literaturwissenschaftler, die sich sogleich auf den Euphemismus »Viehtränke« einigten. Tatsache aber blieb, wo einst der Schöpfer der norwegischen Nationalliteratur gebadet hatte, war nun eingetrocknetes, an Rostblumen, bläuliche Venen und unzählige Hausschlachtungen erinnerndes Schweineblut. Ein bezeichnendes Bild – auch für den Stellenwert der Literatur.
Tatsache ist, die Welt wartet nicht auf neue Texte. Die Slogans »der mit Spannung erwartete Roman von XY« oder »das lange herbeigesehnte neue Werk von YZ« sind Chimären der Verlage. Tatsächlich wartet keiner, ist die Literatur ein Nischenmarkt, ein Spezialitätengeschäft für Connaisseurs. Es hat ja niemand mehr Zeit zum Lesen – zumindest für nichts, das länger ist als eine Facebook-Statusmeldung oder eine WhatsApp-Nachricht. Der Vereinswechsel eines Zweitligaspielers bekommt wesentlich mehr Öffentlichkeit als der neue Roman eines Bachmannpreisträgers, von dem der Durchschnittsbürger wahrscheinlich gar nicht weiß, was das ist. Bachmannpreis? Meinen Eltern wurde etwa, nachdem ich hier vor 22 Jahren gewonnen hatte, von einem Nachbarn zu meiner tollen Karriere als Friseur gratuliert. Nein, das war nicht ironisch gemeint, der Nachbar glaubte tatsächlich, da es in meiner Heimatgemeinde einen Friseur namens Bachmann gab, dass es sich beim Bachmannpreis um einen Wettbewerb für Nachwuchs-Friseure handeln müsse.

Fast wäre ich versucht zu sagen, die Literatur liegt röchelnd in den letzten Zügen, ihr geschundener Kadaver wird nur noch von ein paar greisen Liebhabern künstlich beatmet, von selbstausbeuterischen Menschen am Leben gehalten. Aber das ist nicht wahr. Ich wollte nie zu denen gehören, die sagen, früher, früher war alles besser, früher ... Ich wollte nie so sein wie der Bauer, bei dem man Ibsens Badewanne gefunden hat, der, so wird erzählt, mit seinem Messer gerade in einem gebratenen Sauschädl, Schweinekopf, herumstocherte, sich kleine Fleischstücke in den Mund stopfte und dabei grunzte: »Nein, Shrimps würde ich nie essen. Shrimps? So ein grausiges Zeug. Mehlwürmer. Wie man so was essen kann, verstehe ich nicht.« Der hat gar nicht gemerkt, was er da tat, schnitt Fleischfasern aus dem Orcus des Porcus und verkündete laut schmatzend: »Nein, Shrimps könnte ich nie essen. Niemals! Mehlwürmer! Aber die Badewanne könnt ihr haben.«
Vor 125 Jahren hat Nietzsche ein Totenbildchen, in Österreich nennen wir das Partezettel, verteilt, welches das Ableben von niemand geringerem als von Gott verkündete. Mein Freund Grünlich befürchtet dasselbe Schicksal für die Literatur. Doch daran glaube ich nicht. Es wird immer eine Sehnsucht nach Geschichten geben, nach Versuchen, das Leben zu bewältigen, zu bereichern und den Tod zu begreifen. Literatur speichert Erfahrungen und Empfindungen schneller als die Gene. Sie darf Dinge anders sehen, aussprechen, neu bewerten, Utopien entwerfen, unvernünftig und verrückt sein. Sie darf Dinge zurechtrücken, was gerade ziemlich notwendig zu sein scheint, denn die Welt ist ein übel riechender Schweinetrog geworden, an dem sich ein paar wirkliche dicke Säue laben, die Anlass zur Vermutung geben, der bekannte, oft zitierte Ausspruch der Ingeborg Bachmann sollte eigentlich lauten: In Wahrheit ist der Mensch die Zumutung. Da werden Billiarden für Rüstung ausgegeben, fehlt aber angeblich Geld für Bildung. Aus Profitgier und Hegemonialstreben werden die Kyoto-Protokolle zum Klimaschutz ebenso ignoriert oder umgangen wie sämtliche Menschenrechtschartas. Jährlich ertrinken 5.000 Flüchtlinge im Mittelmeer, noch immer verhungern Kinder oder fehlt es ganzen Völkern an Medikamenten, Wasser, Grundnahrungsmitteln. Wir alle wissen das – diese ungeheuerliche Verlogenheit: Waffenlieferungen in Krisengebiete, Menschenhandel, darmschädigende Enzyme im Fertigteig der Großbäckereien, krebserregende Handystrahlen, verbrecherische, ja komplett amoralische Massentierhaltung, von Pharmakonzernen verseuchtes Wasser, in dem sich Superkeime bilden, betrügerische Banker, gefälschte Abgasstudien bis hin zur Tochter des Wir-zuerst-und-Arbeitsplätze-zurück-nach-Amerika-Präsidenten, die ihre Modekollektionen von Arbeitssklaven in Billiglohnländern produzieren lässt … das Skandalöse hat die Welt mit ihrer Akne überzogen – und wenn etwas aufbricht, der Eiter der Korruption und Gier, der Machtgeilheit und des Nepotismus hervortritt, wandert einfach eine Politiker- oder Aufsichtsrat-Marionette mit einer Millionenabfertigung in die gute Puppenstube der Pension.

Aber nicht nur, dass wir nichts dagegen unternehmen, wir fühlen uns mit unserer achselzuckenden Ignoranz auch noch im Recht. Die Perversion des Kapitalismus besteht darin, dass man für sich selbst kein Mitleid mehr hat – und für andere noch viel weniger. Denn das ist es, was uns der Neoliberalismus unermüdlich einhämmert: Jeder ist selbst schuld an seinem Elend, seiner Sucht, seinen Schulden, seiner gescheiterten Ehe, seinem Krebs. Und wofür? Wir sind korrumpiert von den Goodies der Marktwirtschaft, von Hotels mit Spa-Bereich, iPads, Hermès-Handtaschen, Pullunder von John Smedley, Taucheruhren von Porsche, Füllfedern von Montblanc, diamantenbesetzten Klobürsten von Cartier, von lauter unnötigem Krempel, der uns vermeintlich zur neuen Aristokratie erhebt, vergessen lässt, dass uns die Jauche bis zum Halse steht.
Eine süffisante Reaktion auf diesen Konsumwahn stammt übrigens von Bhagwan. Sie erinnern sich an diesen kleinen, rauschebärtigen Inder mit dem Aussehen eines Hobbits? Osho, wie er sich später nannte, hatte sich in den Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts 93 mehr oder weniger identische Rolls-Royce zugelegt, was damals von allen außer seinen Anhängern als verwerfliche Dekadenz gebrandmarkt wurde. – Aber Moment einmal, kein Milliardär würde sich 93 Mal den gleichen Luxusgegenstand kaufen, weil das schlichtweg sinnlos ist. War diese goldige Guru-Flotte also vielleicht doch eine augenzwinkernde Geste, die Konsum, Luxus und Nirwana, Wiederholungszwang, Reproduzierbarkeit und das Nichts, worauf das alles hinausläuft, kurzschloss?
Und was macht die Literatur? 93 Rolls-Royce kann sie sich nicht leisten. Wie geht sie um mit der nicht zuletzt von Noam Chomsky postulierten Verantwortung, die Wahrheit zu erkennen, auszusprechen und die Welt zu verändern? Die einen schreiben über das Glück beim Pilzesuchen oder über die Schönheit des Ginsters, andere über Selbsterkundungen, über Fehden mit Kritikern, Elternglück, gescheiterte Beziehungen (immer wieder), dunkle Höhlen, Kindheitstraumata oder über den Kannibalismus nach Schiffskatastrophen des 19. Jahrhunderts. Dazu kommt die schwer zu deutende Pointe, dass der aktuelle Literaturnobelpreisträger so beharrlich schweigt, als müsse er einen mit Shrimps gefüllten Schweinekopf und zwei Richard Parkers verdauen.
Fällt Ihnen etwas auf? Die Welt ist merkwürdig unpolitisch geworden, selbst die Politik ist zu einem Dschungelcamp verkommen, in dem es nur noch um Entertainment mit Grauslichkeiten geht. Die großen Themen werden von den immer gleichen Fernsehcomedians, die scheinen in einer Art Paralleluniversum zu leben, diskutiert und von Hinterzimmer-Interessenvertretern entschieden, die vor allem einen im Schilde führen, ihren jeweiligen Global Player: Die Weltbank, Goldmann-Sachs, die EZB, Lockheed Martin, Exxon, Glencore, Nestlé ... Es ist schamlos, wie die Großkonzerne mit Volkswirtschaften, Ländern, Menschen spielen. Erinnern Sie sich an Griechenland, dessen kleptokratisches System fast die Boni einiger Manager gefährdet hätte. Mit welchen Folgen? Gerade weil das Land nicht mehr auftaucht in den Nachrichten, gibt es noch immer keine medizinische Grundversorgung, nicht einmal für Kinder, Pensionen werden nicht ausgezahlt, Schulen bleiben geschlossen, Menschen hungern. Menschliches Elend für ein paar Börsenbrösel. Widerwärtig!
Firmengeflechte, die Milliarden verdienen, aber keine Steuern zahlen, Waffenlieferungen an Terroristen, vom Westen unterstützte Diktatoren, Bombenterror gegen Zivilisten, und Whistleblower, die eigentlich Anständigen, werden gejagt. Ist das auch nur ansatzweise zu verstehen? Trotz aller zur Verfügung stehenden Information befinden wir uns in einem Zeitalter der »Deaufklärung«, Verklärung, in einem neuen, technisch hochgerüsteten Biedermeier. Wir, von Leuten wie Grünlich abgesehen, nehmen alles hin, solange wir nicht selbst betroffen sind. Sogar dass es in fünfzig Jahren nur noch E-Books gibt, bei denen auch die Geheimdienste ungefragt mitlesen und zensurieren können, womit mein siebenjähriger Sohn dann doch recht bekommt, sogar die in Geschichten gegossene Vergangenheit gehört somit dem Staat, und das ist eine Sauerei. Die Scheiterhaufen der Zukunft sind die Delete-Tasten. Wie? Ich übertreibe? So schlimm wird es nicht werden? Fahren sie einmal in ein autoritär regiertes Land und sehen Sie sich an, was Sie da im Netz plötzlich alles nicht mehr sehen können.
Ich habe auf meinen Reisen aber eine merkwürdige Feststellung gemacht: Je ärmer Menschen sind, desto eher sind sie bereit, das Wenige, das sie besitzen, auch zu teilen. Wir Wohlstands-Hineingeborene dagegen leben in einem nie dagewesenen Luxus, in einem Zeitalter enormer Prosperität, in dem es zu den größten Kümmernissen gehört, dass wir bei Flügen plötzlich für das Gepäck zahlen müssen. Aber wir fühlen uns durch Bettler und Flüchtlinge gestört. Alles, was wir durch Erbschaft reichen Feudalmenschen in der freien Marktwirtschaft bereit sind zu teilen, beschränkt sich auf die sozialen Netzwerke. Immer noch glaube ich aus ganzem Herzen unerschütterlich an das Gute im Menschen. Aber die moderne Welt zerseelt, entfremdet und macht uns zu nachgemachten Menschen. Selbst der Teufel braucht heute keine angebluteten Verträge mehr, er versteckt seinen Seelenkauf einfach in den Einverständniserklärungen mit Nutzungsbedingungen, die wir alle ständig gutgläubig ungelesen anklicken.

Literatur ist Kampf – gegen die Verdummung, Herzlosigkeit, Ignoranz, Lustfeindlichkeit, Engstirnigkeit, aber ebenso gegen die Verknechtung durch die Absolutheits- und Wahrheitsalleinbeansprucher. Kampf gegen den, wie Hans Magnus Enzensberger ihn einmal genannt hat, sekundären Analphabetismus, gegen die medial allgegenwärtigen Mechanismen der Verblödung, die VerRTLisierung der Welt. Literatur hat die Verantwortung, sich für Unterdrückte einzusetzen, auch für unterdrückte Wahrheiten. Und sie hat die Verantwortung, sich einzulassen auf die Welt. Damit meine ich nicht nur Engagement, das leider oft so krampfhaft verbissen, poesie- und witzlos daherkommt, dass es einem die Zehen aufrollt, weil dem Humor, dieser Religion der Ungläubigen, zu wenig vertraut wird. Sondern ich meine eine Beseelung. Seelenfutter. Eine Geselligkeit mit Lust und Witz, Poesie und Intellekt.
Literatur kann das. Sie hat Substanz und Relevanz – und die machtversessenen, kaltherzigen, verlogenen Betonköpfe wissen und fürchten das. Mehr als tausend Autoren, der PEN-Club hat sie aufgelistet, sind derzeit inhaftiert. Viele davon in Staaten wie Eritrea, Burma, Uganda, auf die unsere Wahrnehmung kaum je fällt, andere in Ländern, die Hauptrollen im internationalen Staatengefüge spielen: China, Saudi-Arabien, Russland. Schon in der Türkei säße ich für eine Rede wie diese wahrscheinlich im Gefängnis – und Sie auch, wenn Sie am Ende klatschen. Denken wir an die lebensgefährlichen Verhältnisse, unter denen die Enzyklopädisten die Grundsätze der Aufklärung entwickelten. Literatur war niemals ungefährlich, für niemanden. Aber trifft das auch für gegenwärtig erscheinende Bücher zu? Oder wird hier das Schicksal von Ibsens Badewanne vorweggenommen, handelt es sich um ein grunzendes Suhlen in der Selbstbefindlichkeit? Um arrogante Kunst der Aristokratie, einen Flatus silvanus, oder, um es nobel auszurücken: Schas im Wald?
Die größte, ständig lauernde Gefahr für jede einträchtige Gesellschaft besteht darin, dass sie plötzlich durch religiöse, ethnische, rassische oder andere, vielleicht sogar triviale, lächerliche Grenzen (zum Beispiel Kopftücher, lange Nasen oder eine Vorliebe für Burritos) zerteilt wird, und Demagogen (politische Führer, welche unter Anführungszeichen gehören) die einzelnen Gruppen aufeinander hetzen. Der Balkankrieg, Ruanda, die Ukraine, Syrien. Wir dachten, so etwas gäbe es nicht mehr. Weit gefehlt. Im Grunde wird die ganze homogene Menschheit so zerteilt. Und wenn es jemand schafft, uns zu zeigen, dass wir Mitteleuropäer derselben Spezies angehören wie die Chinesen, Senegalesen, Burmesen, Peruaner, Hawaiianer, Kenianer, Jemeniten oder wer auch immer, dass diese Menschen dieselben Empfindungen, Sorgen, Wünsche haben wie wir – wenn jemand das schafft, dann die Literatur. Darum hat sie auch die Pflicht, sich einzumischen, anzuschreiben gegen Kleingeister und Nationalisten, Europazertrümmerer, Weltzerstörer.
Trotz aller Rückschläge und Wiedergänger der Verrohung sehe ich im Kampf gegen die Barbarei Fortschritte. Man kann nicht sagen, dass die Bemühungen all der großen Geister der Aufklärung nichts gebracht hätten. Noch vor 260 Jahren wurde im Herzen Europas, in Paris, ein Mensch auf bestialische Weise zu Tode gefoltert. Dem Königsattentäter Robert-François Damiens, er hatte Ludwig XV. eine Schnittwunde zugefügt, wurde, nachdem er zuvor wochenlang entsetzlich malträtiert worden war, die Tathand mit brennendem Schwefel verkohlt. Mit glühenden Zangen riss man ihm die Brustwarzen heraus, in seine Wunden goss man flüssiges Wachs, Pech, Blei, Schwefel und siedendes Öl. Sechs Pferde waren notwendig, ihn zu zerreißen, was erst nach dem Durchtrennen der Arm- und Beinsehnen gelang. Angeblich soll der arme, geschundene Mensch selbst nach dieser Tortur noch gelebt und um Erlösung gefleht haben. Sein Haus wurde dem Erdboden gleichgemacht, seine Verwandten mussten ihren Namen ändern und das Königreich verlassen.
Ihr, geschätzte, hier antretende Autoren und Autorinnen, müsst keine Angst haben, gevierteilt werden in Klagenfurt höchstens die Kärntner Kasnudeln, und auch eure Verwandten wird man nach eurem Auftritt kaum des Landes verweisen. Kritiker sind vielleicht wie Abdecker, die ausweiden, Texten das Fell über die Ohren ziehen und sie ausstopfen, aber wenn es sie nicht gäbe, wären wir hilflos den Amateuren von Amazon, auch so ein Global Player, ausgeliefert. Manchmal denke ich allerdings, dass Menschen wie diese Richter und Henker, die damals die Vierteilung Damiens für gesetzeskonform und richtig erachtet haben, auch heute noch am Ruder sind. Manchmal denke ich, dass dieselbe Menschenverachtung auch heute noch regiert.
Gegen solche Hinrichtungen und Hirnrichtungen muss unermüdlich angeschrieben werden. Literatur ist Kampf! Kampf für Unterdrückte, für unangenehme Wahrheiten, unkonventionelles Denken, neue Formen, das Unmögliche. Und auch wenn es kaum jemand liest, gibt es zumindest Grünlich … Nein, denn der wurde mittlerweile von seiner Sammlung erschlagen und liegt nun in einem Büchergrab. Es ist ja manchmal so, dass das, was man am meisten liebt, den Untergang bedeutet. Aber keine Angst, Grünlich ist nur eine Kunstfigur meiner Künstlerfreunde Voigtmann/Schulze, eine literarische Gestalt, die bereits in Thomas Manns Buddenbrooks vorkommt. Eine literarische Erfindung, wie auch einiges andere in dieser Rede, – und somit der vielleicht wertvollste, nicht leicht veräußerbare, mit allen Mitteln zu verteidigende Schatz.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen nicht nur grünliche, sondern auch engagierte Tage in Klagenfurt, starke Texte, und dass Sie davon nicht erschlagen werden. Essen Sie Austern mit Sauce Mignonette, gehen Sie baden im Wörthersee, finden Sie Schätze, aber vergessen Sie nicht auf die dünne Schicht unserer Moral und Zivilisation, die ziemlich brüchig ist.
Somit bedanke ich mich für die Aufmerksamkeit. Und wenn Sie jetzt und in den nächsten Tagen klatschen, mit Ihren Händen oder in den See, denken Sie an die Türkei, daran, dass immer noch über tausend Autoren im Gefängnis sitzen.

Video „on demand“ der Rede zur Literatur von Franzobel:

Anmerkungen

* Das Eingangszitat stammt von den Maori und bedeutet in etwa: Meine Sprache ist meine Erweckung, meine Sprache ist das Fenster zu meiner Seele.

* Yann Martel: Schiffbruch mit Tiger. Fischer 2004. Dass der Tiger Richard Parker heißt, ist natürlich kein Zufall.

* In manchen Teilen Österreichs bezeichnet »Adel« auch die Jauche. Ob hier ein pejorativer (Aristokratie-Gülle) Zusammenhang besteht, weiß ich nicht.

* Ad Schriftsteller und Schriftstellerinnen: Warum nicht? Gefallen tun mir diese Gender-Wortungetüme nicht, aber vielleicht sind sie notwendig.

* Noam Chomsky: Die Verantwortlichkeit der Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik. Kunstmann 2008.

* Horst Karasek: Die Vierteilung. Wagenbach 1994. Es gibt unzählige Bücher über die Gerichtsbarkeit, in denen menschenunwürdige Torturen beschrieben sind. Die gegenwärtigen Berichte von Amnesty International sind allerdings um nichts weniger erschütternd. Hingewiesen sei auch auf das im Grunde tragische und ausweglose Schicksal des Johann Georg Grasel, räuberischer Sprössling eines Abdeckers, in Teilen des Waldviertels immer noch als eine Art Robin Hood verehrt, am 31. Jänner 1818 in Wien öffentlich gehängt.

* Eine nicht wirklich in den Kontext passende, aber nette Geschichte: Der begnadete, viel zu früh verstorbene Wiener Germanist Wendelin Schmidt-Dengler hat einmal darauf hingewiesen, dass sich die Überlegenheit der romanischen Sprachen gegenüber den slawischen und germanischen schon in einem Wort wie »Unterhose« zeigt: Im Italienischen heißt sie »mutande«, die zu Wechselnde, im Kroatischen »gaće«, das man wohl wie »Gatsch(e)« ausspricht.

* Ein Beispiel für religiösen Irrsinn hat sich am Palmsonntag 1817 im oberösterreichischen Ampflwang zugetragen. Die den Weltuntergang erwartende Sekte der Pöschlaner, benannt nach dem Prediger Thomas Pöschl, hat den einzigen Ungläubigen im Ort für den nicht eintreffenden Messias verantwortlich gemacht und kurzerhand erschlagen. Nachdem diese Interferenzen beseitigt waren, man noch ein Mädchen gemeuchelt, das Vieh erschlagen und die Höfe niedergebrannt hatte, erwartete man, nur mit Leinenhemden bekleidet den Jüngsten Tag auf einem Feld. Natürlich umsonst. Halbverhungert und geläutert kehrte man irgendwann nach Ampflwang zurück.

* Wer sich für Sinnfragen und Philosophie interessiert, sollte sich mit Teilchenphysik beschäftigen. Ich verweise auf meinen bescheidenen Versuch, das Unbegreifliche zumindest zu erahnen: Franzobel/Ginter: LHC: Large Hadron Collider. Edition Lammerhuber 2011.

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