TEXT Birgit Birnbacher, A

Birgit Birnbacher liest auf Einladung von Stefan Gmünder den Text „Der Schrank“. Sie finden hier einen Auszug des Textes und den gesamten Text zum Nachlesen im .pdf-Format.

Das ist nicht viel, aber es könnte weniger sein. Was der Beobachter sieht, als er auf die Haustür zugeht: Dieser Rasen ist keine Wiese, aber dort und da fliegt ein Tier. Das Waschbetonquadrat, auf das der Typ vom Haus gegenüber manchmal seine Lebensmittel kippt, ist sauber vom kürzlichen Gewitter. Mit diesem Hof hat es einmal jemand gut gemeint, auch die Aufschrift auf der Fassade bezeugt es: Die Reitkunst war hier einst eine sehr beliebte Sportart. Der Beobachter steht allein da, er weiß nicht, dass ich ihm von oben zuschaue. Viele der kleinen Küchen- und Flurfenster sind wegen der Hitze geöffnet, manche sind mit ausgebleichten Tüchern abgehängt, einige mit Folie blindgeklebt. Von irgendwo ist ein Fernseher zu hören, es ist windstill, kurz nach Mittag, Hochsommer. Jahrhundertsommer, schreiben die Zeitungen, und in der Blumenkiste, außen an der straßenseitigen Loggia der Beckmann, verdorren gelbe und violette Stiefmütterchen zu Stängeln. Unten vorm Supermarkt verfangen sich hellrote Fetzchen von Gratisplastiksäcken in der staubigen Linde. Eines wird dem Beobachter in der Sohle seines Schuhs hängen geblieben sein, im Stiegenhaus liegt es später auf den Stufen zwischen zweitem und drittem Stock. In den Tagen nach seinem Erstbesuch gehe ich ein, zwei, schließlich drei Mal daran vorbei. Beim vierten Mal ist es fort.

Es riecht nicht gut, das wird er jetzt schon bemerkt haben, aber wer weiß, wie es im Lift gewesen wäre. Ein kurzes Verschnaufen im dritten Stock, da treibt es ihm richtig den Schweiß aus den Poren. Auch er wird das Übliche denken: Eine andere Jacke hätte er nehmen sollen, gar keine, und was wäre an offenen Schuhen wirklich so schlimm gewesen? Zumindest das weiß er schon: Die Straßenreinigung fährt anderswo, im Festspielbezirk. Durchgeschwitzt und mit geschwollenen Füßen wird er ankommen im vierten Stock, Stiege 16. Am winzigen Fenster zum Hof hinaus noch einmal nach Luft schnappen, dann überlegen, wo er klingeln soll. Rechts bei der Beckmann, Mitte links beim Berlacovic oder links, bei mir. Die Übergangsresidenz zwischen Beckmann und Berlacovic ist unbewohnt, einen Buchstaben in der Dokumentation des Beobachters kriegt sie trotzdem. M, N, O und P heißen wir später, jeder Teilnehmer bekommt eine Excel-Datei.

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der schrank birnbacher TEXT
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